Christian Unverzagt

Über Hunde, Tote und Narren

Beitrag zur Nachtflug-Sendung die "Rückwärts-Sekte" im Radio 100 (Berlin) vom 3. 6. 1988

Zu den vielen merkwürdigen Phänomenen, mit denen die Indianer Nordamerikas die Welt bereichert hatten, gehörten die sogenannten Hunde-Gesellschaften der Stämme am oberen Missouri. Wahrscheinlich hatten sie ihre Blütezeit im 18. Jahrhundert, noch vor der Vernichtung des indianischen Lebensraums durch die vordringende weiße Zivilisation. Sinn und Zweck dieser Organisationen, die man auch Vereine oder Banden nannte, lassen sich nur noch bruchstückhaft aus den Erzählungen früher Reisender und den Berichten ehemaliger Mitglieder erschließen. Nur eines ist sicher: überall kehrten sie die Regeln des Stammesalltags um.

„Sie sind frei von Furcht; sie lieben den Ungehorsam; sie mißachten die Inzest-Verbote; nichts ist ihnen heilig.“ Mit diesen Worten leitet Fritz Kramer seinen Artikel Irre Hunde im Kursbuch 63 (1981) über die indianischen Kyniker ein. Aber auch wenn sie taten, was normalerweise streng sanktioniert wurde, so handelte es sich bei den Hunden doch in keiner Weise um „Dissidenten“, um Rebellen oder Aufrührer gegen die Sitten des Stammes; ihre Regelverletzungen waren ein selbst geregeltes Spiel. Man muß sich die Hunde als Männer von hohem Ansehen vorstellen.

In einem überlieferten Satz wendet sich der Gehilfe mit folgenden merkwürdigen Worten an Gelben Hund, der das Amt des Himmlischen Hundes, des Stifters der Hundegesellschaft, innehat: „Dir schließe ich mich an, denn ich stelle den Menschen dar.“ Die Hunde pflegten die verkehrte Rede. Sie taten immer das Gegenteil von dem, was sie sagten. Und ein Hund erwartete auch, daß andere das Gegenteil von dem taten, was er befahl. Schließlich liebten die Hunde den Ungehorsam. Gelber Hund spricht so zu den Kriegern: „Wenn ihr gegen die Feinde kämpft und der Echte Hund vorangeht, müßt ihr sagen: Geh voran und wirf dich auf den Feind. Dann muß er umkehren. Sagt ihr aber: Komm zurück, halte dich fern vom Feind, dann muß er sich mitten unter sie werfen.“

Die Hunde waren Krieger. Als solche nahmen sie am permanenten Spiel um die Ehre teil. In Gesellschaften ohne Staat hat dieses Spiel um die Ehre eine besondere Bedeutung für die Regelung der sozialen Beziehungen; innerhalb des Stammes, aber auch gegenüber den Nachbarn. Neben den Verwandschaftsbeziehungen bestimmt sich in Stammesgesellschaften das soziale Ansehen wesentlich über die Spielregeln eines strengen Ehrencodex. Wer gegen ihn verstößt, wird sozial geächtet. Als Krieger nun, wenn man gegen den Feind anritt, um Trophäen mit nach Hause zu bringen, waren die Hunde untadelig. Sie waren durch ihre Organisation in so hohem Maße zur Furchtlosigkeit und Tapferkeit verpflichtet, daß man von ihren Amtsträgern sagte, sie seien zum Sterben verurteilt. Überlebte einer dieser besonders ausgezeichneten Würdenträger seine Amtszeit, so war er für immer dem Gespött preisgegeben.

Aber die Hunde waren nicht nur Krieger. Sie hatten sich die Pflicht und das Recht erworben, wie Hunde zu leben. Wie Hunde, das hieß auch schamlos. Sie waren nicht nur dazu verpflichtet, rohes Fleisch zu verschlingen, das man ihnen auf den Boden warf, sondern sie verletzten auch das Inzesttabu. „Echter Hund lehrte, die Leute sollten bei Aufführung des Hundetanzes die Tür schließen und sich im Dunkeln frei ihren Lüsten hingeben, ohne auf Verwandtschaftsgrade zu achten, wie Hunde es tun.“ Was die Hunde taten, war nach dem gültigen Ehrencodex zweifelsohne ehrlos.

Hatten sich die Hunde innerhalb des Stammes nur ein Privileg verdient? Der Informant suggeriert es: „Das wurde in Anbetracht der Gefahren gewährt, denen die Hunde sich im Kampf aussetzen.“ Aber es macht keinen Sinn, eine so zentrale Tabuverletzung wie den Inzest als Privileg für kriegerische Leistungen zuzugestehen, die schließlich auch andere erbrachten. Kramer sieht in den Regeln der Hunde so etwas wie eine List im Spiel um die Ehre. „Die Echten Hunde halten sich an die Spielregeln, an die alle sich halten, in umgekehrter Lesart, aber letztlich mit dem gleichen Ziel: Alle Rücksichten des gewöhnlichen Lebens setzen sie zurück, um sich für das Spiel um die Ehre frei zu machen, um sich im Wettstreit um Coups den Vorteil vollkommener Furchtlosigkeit zu verschaffen. Darum genießen sie die höchsten Ehren, obwohl sie ‚ehrlos’, wie Hunde, leben.“ Ein Trick also, der größte Coup. Demnach war es kein Privileg, was sich die Hunde herausnahmen, weil sie sich verdient gemacht hätten, sondern sie warfen ihr soziales Prestige weg, um alles auf eine Karte zu setzen, mit der sie noch mehr zurückzubekommen hofften. Sie waren ehrenhaft, ohne tugendhaft zu sein.

Wenn dem so ist, dann muß es eine Meta-Regel gegeben haben, mit der die Regelverletzung ohne Sanktion in das Stammesleben integriert werden konnte. Der Trick der Hunde mußte legitim sein – und das Treiben der Hunde wurde schließlich anerkannt. Diese Anerkennung war nicht nur eine Wertschätzung der kriegerischen Leistungen der einzelnen Hunde, sondern auch die Anerkennung der Regelverletzung selbst. Wie die Toten und die Narren standen die Hunde außerhalb der Regeln des Stammes – und gehörten gerade dadurch dazu. Ein Paradox. Es gehörte zu den Regeln des Stammes, daß es diejenigen gab, die sie durchbrachen. Vielleicht könnte man das als das Prinzip einer ironischen Gesellschaft ansehen.

Der Tote, der Hund und der Narr stehen in einer besonderen Beziehung zueinander. Jeder Hund war eigentlich schon ein Toter, wenn er seinen Schwur getan hatte. Er war der Überwinder der Furcht vor dem Tod, weil er schon tot war. Mit dem Narren verband ihn die Befähigung, Wahnsinn zu bringen; zumindest wurde das den Hunden nachgesagt. Einzelne, die keiner Gesellschaft angehören mußten und keine Coups in den Schlachten sammelten, sich aber dennoch dem Tod durch einen öffentlichen Schwur ausgeliefert hatten, nannte man „Irre Hunde, die sterben wollen“. Bis zu ihrem Tod pflegten sie die verkehrte Rede und lebten sie die verkehrte Welt. Angeblich sollen sie die Lieblinge der Frauen gewesen sein. Kramer zitiert überlieferte Anlässe für einen solchen Schwur: „Ein junger Mann hat ein unheilbar krankes Knie; ein Mann hat viele Verwandte verloren; ein junger Mann, dessen Vater gestorben ist, sieht, wie seine Pferde leiden, da keiner so gut für sie sorgt wie sein verstorbener Vater; ein Mann ist unzufrieden mit der Art, in der die Regierung Rationen verteilt.“ Man nannte sie Irre Hunde, aber es gibt, wie Kramer anmerkt, „keinen Hinweis darauf, daß man sie selbst für wahnsinnig hielt.“

Dennoch haben die Hunde etwas mit den Narren gemeinsam. Beide gehen rückwärts durchs Leben und schauen sich die Dinge von hinten an. Sie erinnern den Stamm an die Regelhaftigkeit seiner Regeln, an die Menschenmöglichkeit anderer Welten – und der Stamm räumt diesem verbotenen Blick auf seine Rückseite einen eigenen Platz ein.

Die Indianer Nordamerikas kannten wie wohl alle Stämme den Unterschied zwischen dem weisen und dem törichten Narren. Der weise ist einer, der es schafft, mit seiner Eigen-Art soziales Prestige zu erlangen, während der andere, der dumme und tölpelhalfte Clown, der seinen Spleen nicht symbolisch zirkulieren lassen kann, in seiner Einsamkeit zurückkbleibt. Er wird verlacht, nicht ernst genommen. Aber er bleibt der Begleiter der Anderen. Im Lachen über ihn erkennt die Gesellschaft die Regelhaftigkeit ihrer Regeln. Sein unerklärliches Anders-sein ist ein Erinnerungszeichen des Als-Ob-Charakters der Wirklichkeit. Es ist der Spiegel des Stammes im permanent stattfindenden Umkleideraum der ontologischen Doppelexistenz von Person und Darsteller. Eine Gesellschaft, die diesen ihren Spiegel nicht zerschlägt, die ihrer eigenen Desillusionierung lachend begegnet, ist eine ironische Gesellschaft.

Der weise Narr spielt nicht nur nicht gemäß der Regeln, sondern er spielt mit ihnen. Er ist ihr Wächter, der ihre Erstarrung zum Gesetz verhindert. Daher haben die Gesellschaften des Gesetzes ihn ausgegrenzt und kaserniert. Der Narr spielt mit der Wirklichkeit. Aus ihrem Raum macht er einen 3-Torus, einen Raum, durch dessen Rückwand man erscheint, wenn man ihn an seiner Stirnseite verläßt. Er ist die überraschende Verkehrung der ehernen Ordnung, die einen mit der Rückseite der Erscheinungen konfrontiert. Ein merkwürdiger Spiegel, der nicht das Selbst-Bild, sondern den Hintergrund der eigenen Existenz zurückwirft.

Der Narr ist die Bedeutungslosigkeit des Unterschieds und die Bedeutsamkeit des Gegenteils. Er ist die Verkehrung des Männlichen ins Weibliche und umgekehrt. Er sagt nein statt ja und ja statt nein, er geht das Leben rückwärts und wird vom Krieger zum Kind.

Der Narr ist töricht oder weise, er steht am Anfang und am Ende des Lebens; aber er ist auch die Implosion der Pole. Als Un-Person ist er die unbezeichnete Null; er schließt den Kreis, dessen Schein er durchbrochen hat. Er ist Zerstörer und Schöpfer. Aus dem Ende macht er einen Anfang, womit alles weitergehen kann.

Vielleicht wird nur dort, wo Hunde und Narren frei herumlaufen, die rückwärtige Kraft nicht von den Zwecken schwarzer Magie gelenkt.