Christian Unverzagt

Im Schatten der Zeit

 

zu Chris Markers Filmessay Sans Soleil

aus vmax. Die Zeitschrift auf der Überholspur. Berlin 1985

Die Poesie entsteht aus der Unsicherheit


Vom Text


Dieser Text ist ein Text zum Text und nur über diesen Umweg ein Text zum Film – der selbst ein Text ist, da er die Schrift eines Gedächtnisses darstellt. Die Eindrücke beim Sehen des Films sind nur noch als erinnerte erhalten, gefiltert durch eine Reflexion, der es allerdings weder um Kritik noch um Interpretation geht, auch wenn sie beides enthalten mag. Es soll das Bild einer Haltung gezeichnet werden, die Ästhetizismus genannt wird. Was den Sinn des Films ausmacht, entfällt: die Bilder. Sie sind aufgelöst. Nicht verboten, auch nicht verschwiegen; im Gegenteil: sie werden bestaunt, dennoch sind sie im Text verschwunden. Nicht, daß nur der Text gegenüber dem Film eine reduktive Dimension darstellte – auch der Film ist eine solche gegenüber dem Stoff seiner Bilder. Jede Meta-Ebene löst den Stoff der unteren Ebene auf. – Auf unserem Umweg zum Film nähern wir uns bereits einer seiner Aporien (deren Unlösbarkeit aber einer vergangenen Epoche angehören soll).

 

Ein angehaltener Augenblick würde verschmoren wie das Bild eines vor dem Brennpunkt des Projektors blockierten Films.


In dem Film geht es um einen tausendgestaltigen Augenblick: den, in dem das wahre Bild, das zugleich das des Glücks wäre, erscheint. Aber festgehalten wäre er sofort verschwunden, er muß daher umgangen werden. (Und gerät man nicht zunächst in Verwirrung, als ein Bild angehalten wird, das den „wahren Blick“ einer afrikanischen Frau eingefangen haben will?) Der Film kann nicht gedreht werden , er ist eine Unmöglichkeit.

 

Aber ich sammle die Dekorationen, ich denke mir die Umwege aus, ich bringe meine Lieblingsgeschöpfe darin unter, und gebe ihm sogar einen Titel, eben den der Melodien Mussorgskijs: Ohne Sonne.

 

Der Film, die Kopie, ist ein Umweg zum Augenblick, der einzig mögliche Weg auf der Suche nach dem in ihm verborgenen Sinn. Das „Original“ wäre nur im Augenblick selbst möglich – dort, wo kein Film stattfindet; denn jeder Film bleibt nachträglich, bleibt Kopie, unabhängig von deren Zahl. Nachträglich zwar wie jede Erinnerung, die den Sinn von Vergangenem wiederzugewinnen sucht; jedoch in Form einer für die Allgemeinheit des Publikums bestimm­ten Kopie. Der Sinn aber weilt nur in der Präsenz, die Anderen nie präsentiert werden kann, weil sie an die Individualität des Erlebens gebunden ist, und sei es in Form der Erinnerung. Präsentiert werden kann nur die Suche nach ihm, die Haltung zu dem, was sich nicht halten läßt. Und wenn diese Haltung, die den verschwundenen Sinn in der Wiederkehr von Bildern aufsucht – deren Differenz (die im Fluß der Zeit selbst liegt) nicht leugnend, sondern durch ihre Korrespondenz in ein Reich jenseits der profanen Zeit überbrückend – sich als Film präsentiert, stellt sie sich in einen berstenden Raum, in dem die Umkreisung des Sinns an unzähligen Punkten durchlöchert wird. Es breiten sich nicht nur konzentrische Kreise wie bei einem ins Wasser geworfenen Kiesel um den Film aus; Überlagerungen finden statt, in denen das Deckungsgleiche schon in verschiedenen Kontexten steht; Zitate, die mit ihrem Ursprung nur noch aus der Ferne eines unermeßlichen Zeitraums korrespondieren. Texte beginnen an diesen Schnittstellen, als Schnitte in einem zyklischen Geschehen; und ihr Versuch, sich wieder zu schließen, wird sinnlos geworden sein, wenn andere Texte in sie hereingebrochen sein werden. Das Unendliche, das jenseits der Zeit läge, kann nur abwesender Stoff von Texten sein; sie selbst sind immer nur Station im endlosen Fluß der Zeit. Und so ist auch der Film ein Text, dessen Nachträglichkeit sich in der Form des Zitats reflektiert und der sich zugleich seine eigene Zyklik zu geben versucht, durch die das Verrinnen in sich selbst zurückfließen soll. Verlesene Briefe kommentieren Bilder (oder ist es umgekehrt?), deren Verknüpfung im Erleben des Autors geschieht – eines Autors, der so abwesend bleibt wie das Erlebte selbst, das eben nur in Form von Bildern zitierbar ist.


In der Wüste


Plötzlich ist man in der Wüste wie in der Nacht. Alles, was sie nicht ist, gibt es nicht mehr. Die Bilder, die sich einstellen, will man nicht wahrhaben.

 

War die Geschichte nicht der Weg, auf dem wir die Zeit mit Sinn decken wollten, und scheint nicht alles Wüste, nachdem wir von ihm abgekommen sind? Die Geschichte war die Zeit der Vor-Bilder, in der das Versprechen ihrer zukünftigen Realisierung Identität spendete. Aber diese war um den Preis des Gedächtnisses erlangt.


Da, wo man uns glauben machen möchte, daß ein Kollektivgedächtnis entstanden sei, sind tausend Gedächtnisse von Menschen, die ihre persönliche Zerrissenheit in der großen Zerrissenheit der Geschichte umhertragen.

 

Die Geschichte fordert das Opfer des Gedächtnisses, das immer das eines Einzelnen ist; ein Opfer von Tausenden; ein Opfer, das als schicksalhafte Macht auf sich zurückschlägt, ihre Betreiber selbst zu Opfern werden läßt und jedes Ziel ins Reich der Schimären bannt.


So fallen gewöhnlich die Emporwogenden wieder hinab, und zwar auf eine so vorhersehbare Weise, daß man wohl an eine Art Zukunftsamnesie glauben muß, welche die Geschichte aus Barmherzigkeit oder Berechnung jenen gewährt, die sie anheuert... So schreitet die Geschichte voran, indem sie sich das Gedächtnis zuhält, so wie man sich die Ohren zuhält. Sie hat nur einen Verbündeten, von dem Brando in Apokalypse Now sprach: das Grauen – das einen Namen und ein Gesicht hat.


Von der großen Hoffnung ent-täuscht, bleibt das Gedächtnis allein. In der Wüste? In einer Wüste, aus der Bilder wie von einer Fata Morgana aufsteigen; wirre Zeichen, die ihre Verknüpfung verloren haben. Sie bilden das Material des Gedächtnisses. Denn das Gedächtnis ist kein Vakuum, das nach der Desillusionierung zurückbliebe. Es ist der Raum, der durch Geschichten zusammengefügt wird, durch Legenden, in denen das, was sich ereignet hat, als Zeichen lesbar bleibt. Dazu muß es „verfälscht“ werden. Bliebe es sich gleich, würde es dem, der es erlebt hat, im Lauf der Zeit fremd. Es muß seine Bedeutung ändern können, soll es nicht zum stummen Zeichen werden.


Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt.


In gewisser Hinsicht verfährt das Gedächtnis wie die Geschichte, nur daß es einsam verfährt. Die Hoffnung zieht sich in die Einzelheit zurück, die sich nicht mehr in die erste Person Plural zu konjugieren versucht.


Ich denke an eine Welt, in der jedes Gedächtnis seine eigene Legende erfinden könnte.


Aber steht der Wahn des Zusammenhangs, den das Gedächtnis sich gibt, nicht noch immer im Schatten der Geschichte? Bedeutet nicht auch die


Unmöglichkeit, mit dem Gedächtnis anders als es verfälschend zu leben,


immer wieder dem Wahn der Wahrheit zu verfallen? Dem Wahn, der das Opfer derer fordert, die in die eigene Welt treten, um deren Sinn in ihre Pläne abzusaugen? Ist das Eintreten Anderer in die einsame Legende nicht der Ursprungsort der Paranoia? So wie in Hitchcocks Vertigo, den der Autor zitiert: Scottie, dem es dämmert, nicht Handelnder, sondern Werkzeug in einem finsteren Mordplan gewesen zu sein, wird bei dem Versuch, die Realität klarzukriegen, sie für sich umzuschreiben, zum Ausführenden des Mordes. Im Moment, da er sich selbst, seine Realität als Handelnder wiedergefunden zu haben meint, scheint er ganz im Dienst einer schicksalhaften Macht zu stehen – deren Name für die Geschichte Grauen genannt wurde. In der Welt des Handelns scheint alles dem gleichen Gesetz zu unterstehen. – Und könnte in einem Film, der seinen Zusammenhang durch eine Handlung erhielte, überhaupt etwas anderes als ein vorgängig fixiertes Geschehen dargestellt werden? Die Welt des Gedächtnisses aber soll eine individueller Korrespondenzen sein.


Zeichen der Zeit


Die Orte wechseln, mit ihnen das Interesse. Der beim Reisen beschleunigte Raum transformiert sich in Zeitphänomene, von denen nur das Flüchtige es wert ist, erinnert zu werden.


Nach einigen Reisen um die Welt interessiert mich nur noch das Banale.


Nicht das Alltägliche, das in den Rahmen der Zwecke und des Handelns eingespannt ist, sondern ein darin fragmentarisch Eingestreutes; das, was sich als reines Zeichen lesen läßt, das auf nichts verweist als auf sich selbst, wenn es erinnert wird. Das Banale sind die Löcher im Raum, in denen die Zeit ihr eigenes Sein hat.


Die ganze Stadt ist eine auf Streifen gezeichnete Geschichte.


Mit ihrem Gewimmel hektischer Phänomene ist die Stadt der Blick-Raum par excellence. Sie ist der absolute Film, das Materiallager der Welt des Gedächtnisses, in der sich der Autor auf die Suche nach Sinn gemacht hat. Die Stadt, die der Autor beschreibt, heißt Tokyo. Die Leserin seiner Briefe berichtet:


Er lief herum, um nachzuschauen, ob alles noch an seinem Platz war, die Eule von Ginzo, die Lokomotive von Shimbashi, der Tempel des Fuchses auf der oberen Plattform des Riesenkaufhauses Mitsokoshi, die nur von kleinen Mädchen und Rocksängern bevölkert war. Alles interessierte ihn... Er erkundigte sich nach der kaiserlichen Familie, dem Thronfolger oder dem ältesten Gangster von Tokyo, der regelmäßig am Fernsehbildschirm erscheint, um die Kinder Güte zu lehren. Diese einfachen Freuden der Rückkehr in die Heimat, an den Herd, ins Familienhaus, das er nicht kannte, konnten ihm zwölf Millionen anonymer Bewohner bereiten.


Die Beschreibung der Stadt konnte nur die eines Wieder-Sehens sein, dessen euphorisierende Wirkung darin liegt, daß der Blick im Strom der Zeit wiederkehrende Bilder erkennt. Der Blick aufs Gegenwärtige ist nicht mehr von der geschichtlichen Hoffnung gelenkt, sondern nur noch auf das Erinnerungsfähige gerichtet. Die Geschichte steht wie eine schroffe Felsenlandschaft da, aus der der Sinn abgeflossen ist, um in den Mulden der Ästhetik zur Ruhe zu kommen. War der Tigersprung ins Vergangene einst für Benjamin noch gleichbedeutend mit dem Handeln im Hier und Jetzt, so dient er dem Ästhetizismus zur Verwandlung des Akteurs in einen Zuschauer, der die Welt als Flut von Bildern nimmt. Die geheime Hoffnung: Der Zuschauer kennt nicht mehr die Ohnmacht der Enttäuschten und die Entfremdung in einer übermächtigen Welt, sondern nur noch das Staunen des Empfänglichen. Die Gegen-Geschichte, die sich nicht von einem ewig Zukünftigen nährt, sondern Korrespondenzen mit Vergangenem, Unabgegoltenem herstellt, ist nicht mehr Zitat in einer polemischen und blutigen Rede, sondern innerer Monolog über die Welt.


Der Augen-Blick der Wahrheit


Gibt es eine geheime Statik, die jene (Stütz-)Punkte, die Tokyo für den Autor zusammenhalten, der Willkürlichkeit enthebt? Die Suche nach einer jenseitigen Ordnung unserer Angelegenheiten – ob sie Schicksal oder Ratschluß Gottes genannt wurde – ist so alt wie die Konfrontation mit der Kontingenz.


Am Rande der Wüste sieht der Autor seine Hunde so aufgeregt wie noch nie mit dem Wasser spielen. Es ist der Beginn des neuen Mondjahres, an dem sich zum ersten Mal seit 60 Jahren das Zeichen des Hundes und das Zeichen des Wassers kreuzen. Aber die Astrologie mag hier als Metapher gelten. – In Japan gibt es den animistischen Glauben,


demzufolge irgendein x-beliebiges Bruchstück der Schöpfung seine unsichtbare Entsprechung hat.


Über die Seele der Dinge läßt sich mit ihnen kommunizieren und durch diese Kommunikation reihen sie sich ein in die


Liste der Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen;


eine Liste, deren Idee im 11. Jahrhundert am japanischen Kaiserhof entstand. Der japanische Alltag ist durchsetzt von Ritualen, die diese Kommunikation herstellen.


Wenn man eine Fabrik oder einen Wolkenkratzer baut, beginnt man damit, den Gott, der das Gelände besitzt, in einer Zeremonie milde zu stimmen. Es gibt Zeremonien für die Pinsel, für die Rechenbretter und sogar für die verrosteten Nadeln. Es gibt am 25. September eine für die Ruhe der zerbrochenen Puppen. Die Puppen werden in einem der Göttin des Mitleids geweihten Tempel in Kiyomizu zusammengetragen und öffentlich verbrannt.


Der Autor ist fasziniert von solchen Riten, die ihm das Gewebe der Zeit an ihrer Rißstelle wieder zu flicken versprechen. Nach ihrem Modell richtet sich der ästhetische Blick aus, der im Banalen


die Faszination, die mit dem Sakralen verbunden ist,


sucht. Unter dem ästhetischen Blick beginnt sich die technisierte Umwelt aus der Schale der Ratio zu pellen. Sie räkelt sich


vom Hauch des Animismus beseelt; unsichtbar für andere – wie jene indische Flöte, deren Klang nur von ihrem Spieler gehört werden kann.

 

Nicht nur in der Form der Plakatwände und Lichtreklamen mit ihren


Riesengesichtern, deren Blick man auf sich lasten fühlt; denn die Bildvoyeure werden ihrerseits wieder von Bildern gesehen, die größer sind als sie selbst.

 

Alles, was im Blick zurück erinnert werden wird, hat selbst schon zurückgeblickt: auf den Zuschauer, dessen ästhetischen Blick es angesprochen hat. Wie der Ritus läßt die Erinnerung die Bilder wiederkehren, aber nur solche, die von einer sakralen Aura umgeben sind; und das sind alle, die in der Erinnerung auf sich selbst bzw. ihre unsichtbare Entsprechung verweisen. Die Ästhetik erhält religiöse Schwerkraft. Das Banale wird durch die Zeremonie der Blicke heiliggesprochen und aus der profanen Welt ins sakrale Reich des Gedächtnisses überführt. Die Transsubstantiation des Banalen geschieht durch seine Erfassung als – selbst blickendes – Bild, in dem die Räumlichkeit der Welt – Voraussetzung für die Vorstellung ihrer Veränderbarkeit – aufgelöst und in ein Problem der Zeit (des Gedächtnisses) überführt ist.


Er sagte, im 19. Jahrhundert habe die Menschheit ihre Rechnung mit dem Raum beglichen, und es gehe im 20. Jahrhundert um das Zusammenleben der Zeiten.


Die religiöse Ewigkeit findet sich im ästhetischen Augen-Blick wieder. Die Welt ist zu einem Universum von Bildern geworden: Zeichen, die auf keine „Realität“ mehr verweisen – diese gehört der Welt der Geschichte an – sondern auf sich selbst. Der Moment, in dem der Blick zurück – sei es von beseelten Dingen oder Menschen – den Blick des Voyeurs trifft, ist der Augen-Blick der Wahrheit: er dauert genauso lange wie ein (Film-)Bild (wenn man mit 25 Bildern pro Sekunde dreht). Denken sowie praktische Veränderung der Welt – geschichtliche Realisierung des Vor-Bilds – sind als Ort der Wahrheit aufgelöst. Die Wahrheit findet in der Zeit der rituellen Ästhetik statt, in der Adäquanz von Blick und Bild, in der beide Pole kurzgeschlossen sind.


Auf den Märkten von Bissao und den Kapverdischen Inseln habe ich die Gleichheit des Blicks wiedergefunden, und diese Reihe von Figuren, die dem Verführungsritual so ähnlich sind: Ich sehe, sie hat mich gesehen; sie weiß, daß ich sie sehe; sie bietet mir ihren Blick, aber nur aus dem Winkel, wo es noch möglich ist so zu tun, als gelte er gar nicht mir – und schließlich der wahre Blick, ganz gerade, der 1/25 Sekunde gedauert hat, so kurz wie ein Bild.


Der Zelluloid-Ritus


Der wahre Blick findet von Angesicht zu Angesicht statt, in der Gleichheit des Blicks. Wo die Dinge ein Angesicht haben und blicken können, mag es auch die Kamera können. Aber der Film bleibt ein rätselhafter Spiegel des Erblickten. Er kann immer nur das Bild aus der Perspektive des Einen Blicks präsentieren, ohne daß der Moment, da zwischen diesem und jenem nichts mehr ist, erschiene. Oder soll er diesen abwesenden Augen-Blick beim Zuschauer, dem Bildvoyeur, beschwören?

Das Kino ist das Konzentrat der ästhetisierten und animistisch beseelten Stadt.


Je länger man das japanische Fernsehen betrachtet, umso mehr hat man das Gefühl, von ihm betrachtet zu werden.


Auch der Film blickt auf den Kinobesucher zurück und nimmt ihn durch Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen, in seinen Bann; einen Bann der Faszination, der durch die Distanz des Zitats und die Monotonie des Vortrags nicht mehr durchbrochen wird. Der Film erfüllt die magische Funktion des Auges, und der Regisseur ist der unsichtbare Medizinmann im verdunkelten Raum der Neonwelt. Jeder Einzelne im Publikum ist Initiand im ästhetischen Ritual; das Publikum, das in Riten von Stammesgesellschaften deren konstitutive Kollektivität realisiert, bleibt Ansammlung von Einzelnen. Es ist zugleich anwesend und abwesend an einem Ort, dem nur in einer individualisierten Zeitrechnung Ereignischarakter zukommt. Denn andere Kopien desselben Films werden jederzeit woanders präsentiert. Sie sind nicht für dieses Publikum bestimmt und dieses bestimmt sich nicht durch sie; gemeinsam – die Gleichheit des Blicks! – ist ihm nur die Ausrichtung der Blicke aneinander vorbei aufs Leinwandgeschehen. Allein der Einzelne kann sich mit der Zeit der Bilder in Einklang bringen. Die ästhetische Vereinzelung ist die Message des Kinos, die als Initiation in eine Sichtweise fungiert, der die Welt zu einem glitzernden Meer von Bildern geworden ist.


Spuren...


Um das Grauen, das einen Namen und ein Gesicht hat, auszutreiben, muß man ihm einen anderen Namen und ein anderes Gesicht geben.

 

Die Wirklichkeit als eine bildhafte zu sehen – ist dies der andere Name und das andere Gesicht des Grauens? Aber ein neuer Schrecken wartet in der Welt des Gedächtnisses. Vielleicht hört er auf einen alten Namen: den Tod. Er ist der Verbündete der Zeit, der dem Gedächtnis aus der Vergangenheit wie aus der Zukunft auflauert. War die Errettung des Erlebten aus dem Strom der Zeit eine Frage des Augen-Blicks, so bleibt sie auch augenblickhaft. Es gibt kein Ein-für-alle-Mal, nichts entgeht dem Verlust seines Sinnes – außer es wird immer wieder in die Umschreibung des Gedächtnisses aufgenommen. Bilder können in der Erinnerung nur auf sich selbst – das heißt auf das, was sie einen hat anblicken lassen – verweisen, wenn sie in die neue Einschreibung eingehen. Aber dazu müssen sie vorher vergessen worden sein – auf die Gefahr hin, daß sie rätselhaft werden und ihr Sinn einmal nicht mehr wird entziffert werden können. Die Vergänglichkeit, die Impermanenz der Dinge, ist der Fluch der Zeit und zugleich erst die Chance der Erinnerung. Wird dagegen irgendwann die Fähigkeit zu vergessen verloren sein, so wird das Gedächtnis gar keinen Sinn mehr haben.


Alles funktioniert auf vollkommene Weise, alles, was wir noch schlafen lassen, das Gedächtnis inbegriffen. – Die logische Folge: ein totales Gedächtnis ist ein anästhesiertes Gedächtnis.

 

Wir sind nie die Summe unserer Erlebnisse, sondern immer eine Auswahl von ihnen – und ein ungedeckter Rest, der uns zwingt, weiterzuleben; oder anders: der es uns ermöglicht? Immer droht die Wüste und nie ist der Durst nach Sinn endgültig gestillt. Immer wieder werden aus Zeichen Spuren, die sich in einer wirren Landschaft verlieren; aber noch können wir unseren eigenen Weg darin erkennen, wenn wir ihnen folgen. Noch, denn die informatisierte Gesell­schaft wird die des anästhesierten Gedächtnisses sein, in der jede Suche nach dem Sinn der Zeichen absurd geworden sein wird. - Und so wird der Ästhetizismus zwischen der Zeit der Geschichte und dem totalen Gedächtnis vielleicht selbst nur ein augenblickhaftes Dasein fristen. Zumindest wird die voyeuristische Affirmation in den Lauf der Dinge, den sie aus ihrer Welt, einer Welt des äußeren Anscheins, nur unverwandt bestaunen kann, nicht mehr eingreifen. Der Ästhetizismus hat der Subjektivität abgeschworen, aber als individuell verantwortete Haltung, der Resignation zu entgehen, ist er Ausdruck der Agonie des Subjekts, dem letztlich doch nur ein melancholischer Trost bleibt.


Und wenn dann alle Feste zu Ende sind, braucht man nur noch alle Verzierungen, alles Beiwerk des Festes aufzulesen und aus ihrer Verbrennung wieder ein Fest zu machen. Das ist Dondo-yaki. Eine Shinto-Segnung auf diesen Scherben, die Unsterblichkeit beanspruchen dürfen, wie die Puppen von Ueno. Vor ihrem Verschwinden der letzte Zustand des Herzzerreißenden der Dinge.


Der Film ist ein solcher Dondo-yaki, der Vergangenes rituell verbrennt, indem er das Gedächtnis umschreibt. Er wird selbst vergehen: indem er nur noch als Kopie im totalen Gedächtnis festgehalten sein wird, oder indem sein Material weiter umgeschrieben wird, um seinen Sinn aufzuspüren – oder aber um ihn ihm zu entwenden. Oder?