Die Vermüllung der Welt

 Interview mit Christian Unverzagt vom 20. 8. 1991

Ausschnitte ausgestrahlt in: „Journal am Morgen“, SR II, vom 4. 3. 1992

Vermüllung

Frage: Mein Gesprächspartner ist der deutsche Kulturphilosoph Christian Unverzagt, der zusammen mit Volker Grassmuck Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme geschrieben hat. Herr Unverzagt, Sie erfinden mit ihrem Koautor in Ihrem Buch einen Müllprofessor. Sich selbst stellen Sie als die Herausgeber dar und nicht als die Autoren. Der Autor ist jemand anders, eine fiktive Figur. Wieso diese Metapher? Ist der Müll so arg, daß er als direkte Information nicht ertragbar ist?

Antwort: Der Professor ist mehr als eine Fiktion. Er ist jemand, der verschwunden ist und uns Dokumente als eine Art Nachlaß vermacht hat. Dieser Charakter des Nachlasses hat aufs Innerste mit dem behandelten Thema und unserer Sichtweise auf es zu tun. Es geht um eine Sichtweise von einem zeitlichen Danach auf die Rückseite der Dinge, nachdem sie den Bereich des Nützlichen verlassen haben. Wie unser Müllprofessor, der die Bühne, auf der er tätig war, verlassen hat, so müssen wir alle einen Denkrahmen verlassen, innerhalb dessen lediglich noch die Hoffnung den Müll zwingt, aus unserer Welt zu verschwinden.

Frage: Heißt das, dass es keine richtige Strategie gegen den Müll gibt?

Antwort: Der Müll von heute ist keine Substanz, die man beliebig transformieren könnte. Noch viel weniger kann man seine Produktion einfach bleiben lassen. Der Müll ist die fundamentale Rückseite unserer Gesellschaft. Der Müll war immer der Schatten oder der Begleiter des Menschen. Mensch sein heißt Müll machen. Aber eine Menschheit, die sich industriell organisiert hat, die den Grad ihrer Lebensqualität am Ausstoß materieller Güter bemißt, die wird auch Müllmengen und vor allem Müllsorten, d.h. Müllqualitäten, produzieren, die sie selbst nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Und so wird die Rede von „Entsorgung“ selbst zu Sprachmüll. Entsorgung – das bedeutet, daß etwas uns keine Sorge mehr zu machen braucht. Doch die verschiedenen, z.t. uralten technischen Strategien greifen zu kurz. Zuerst ging es nur darum, daß man den Müll lagert, daß man ihm einen Ort schafft, den Ort seines Wegseins. Das war die Deponie, aber irgendwann waren die Deponien überfüllt und neue nicht mehr so einfach durchsetzbar. Zugleich hatte sich eine veränderte Materialqualität bedrohlich auf das Trinkwasser und die Luft ausgewirkt, wogegen man mit Ummantelungen nur notdürftig nachrüsten konnte. So hieß es, man wolle weniger Müll anfallen lassen, indem man Abgenutztes noch einmal verwertet oder wiederverwertet. Und man will das Volumen der Stoffe reduzieren, die gelagert werden müßten. Das tut man durch Verbrennung. Damit kann man allgemein eine Volumenreduktion auf bis zu 10 % bewirken. Aber was man dann hat, sind 10 % hochgiftige Substanzen: Filterasche und Schlacke. Das ist gefährlicher Sondermüll, für den Deponieraum und Lagerungsmethoden noch viel schwieriger zu finden sind. Man ein Verlagerungsgesetz feststellen: Der Müll, der nicht mehr Materialien entstammt, die von der Natur einfach zurückgenommen werden können (wie z.B. Kompost), besteht zunehmend aus zeitbeständigen Materialien, aus Molekülverknüpfungen, die in der Natur nicht vorkommen und sich entweder nur langsam oder aber auch in unerwarteten, in unvorhersehbaren und oft gefährlichen Verbindungen neu zusammensetzen zu Substanzen, die wir noch gar nicht kannten. Das alles bedeutet: Der Müll läßt sich beim Stand einer gewissen Materialsynthese nicht mehr entsorgen, sondern er läßt sich nur verlagern, von einem Medium in ein anderes.

 

Frage: Insofern wäre die Welt so etwas wie ein riesiges Labor, ohne Versuchsanordnung.

Antwort: Ja, diejenigen, die das Experiment beobachten sollen, wissen gar nicht genau, was überhaupt sie beobachten sollen. Es entstehen wesentlich mehr Stoffe aus Verbindungen auf einer Kippe als vorher in Laboren produziert wurden, weil man die offenen Enden, die möglichen Anschlüsse dieser synthetischen Molekülketten im Freiland, nicht kennt. Im einzelnen lassen sich immer technische Verfahren ersinnen, die jedoch meistens wieder ein anderes Problem mit sich bringen, wie beispielsweise Schlacke und Filterstaub aus Verbrennungsanlagen. Die Frage ist, ob die Fragestellung, zu der die Technik in der Lage ist, dem Problem noch adäquat ist.

Frage: Zitat aus dem Müll-System: "Letztlich müßte die gesamte Infrastruktur der Gesellschaft nach den Erfordernissen des Müll-Systems umgestaltet werden."

Antwort: Mit einer neuen Sondermüll-Gesetzgebung müssen neue Annahmestellen und Deponieräume für Sondermüll geschaffen werden. Dazu kommen begleitende Maßnahmen wie Schienenbau, Autobahnausbau etc. Es müssen Wege gelegt werden zu diesen Orten, die abseits und doch zugleich zugänglich liegen müssen. Es werden neue Transport- und Umladeverfahren erdacht, es muß Kompatibilität zwischen verschiedenen Transportsystemen hergestellt werden. Was sich aber vor allem feststellen läßt, ist, daß die Entsorgung des Mülls - um bei diesem Sprachgebrauch zu bleiben - einen immer größeren Teil der produktiven Kapazitäten dieser Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt. Nehmen wir die sogenannten Altlasten. Das sind Altstandorte der Industrie, die den Boden und damit das Trinkwasser bereits verseucht oder zumindest gefährdet haben. Das verschlingt Unsummen. Man redet von bis zu 100 Milliarden Mark, die investiert werden müssen, um allein die bis jetzt bekannten Altstandorte soweit zu sanieren, wie es im Rahmen der technischen Möglichkeiten liegt. Das bedeutet natürlich nicht, daß der Zustand vor der Müllwerdung dieser Orte wieder erreicht werden kann. Es geht dabei nur um die Abwehr von Gefahren. Im Bruttosozialprodukt, dem Fetisch der Produktionsgesellschaft, erscheinen diese Ausgaben, die eigentlich nur de­fensiver Natur sind, aber als Zuwachs des Wohlstands, für dessen Maß man das Bruttosozialprodukt ja hält. Es werden Zahlen als Plus verbucht, während sie in Wirklichkeit Versuche sind, ein Minus zu begleichen. Während die Erde durch auslaufende chemische Substanzen angegriffen und zerstört wird, werden sowohl die Produktion dieser Substanzen als auch die Sanierungsmaßnahmen für den durch sie angerichteten Schaden als Plus verbucht. Obwohl die Erde am Ende noch nicht einmal so ist, wie sie vorher war, hat man in der Buchführung ein doppeltes Plus. Es scheint so, als würden die Kosten, die man aufbringen muß, um Schäden möglichst niedrig zu halten, immer mehr zunehmen. Das führt zu dem, was man die Entsorgungsgesellschaft nennen könnte: Unter der Hand, hinter ihrem Rücken und unbemerkt wird aus der Produktions- eine Entsorgungsgesellschaft. Aber so, wie die Produktionsgesellschaft sich in ein faules Plus rechnet, schiebt die Entsorgunsgesellschaft ihre Kosten an die Zukunft ab. Denn dieser hinterläßt sie ihren Müll, den eigentlich sie selbst ent-sorgen müßte. Diese Zukunft hat bereits begonnen, denn bereits wir müssen die Altlasten sanieren, die aus einer Produktion für einen Reichtum von gestern stammen. Die Kehrseite des Reichtums wird in die Zukunft verschoben,. Es ist ein permanentes Umschuldungsverfahren in Gang. Der Reichtum, der produziert wird, basiert auf einer Hypothek. Man begleicht diese Hypothek, indem man der Zukunft eine noch größere Hypothek aufbürdet. Man hat bereits das Problem der Abwässer, die Nitrat- und Phosphat geschwängert sind. Aber um die Menschheit in dem Umfang, wie sie bereits existiert, ernähren zu können, muß der Boden noch weiter mit Kunstdünger bearbeitet werden, dessen Müllform dann bedrohlich wird für das Grundwasser und damit wiederum für uns beziehungsweise für die, die uns nachfolgen werden. Der Aufgabe, ihre produktiven Kapazitäten der bereits jetzt anstehenden Entsorgung zu widmen, entflieht die an Sanierungskrücken hinkende Gesellschaft dadurch, dass sie die Effekte für die Zukunft steigert.

Frage: Wie könnte denn die richtige Frage lauten, mit der man sich dem Müllproblem annähern sollte?

Antwort: Wahrscheinlich muß man zunächst der Erpressung zu entweder Optimismus oder Pessimismus entgehen. Der Blick auf den Müll fordert uns zu einem wohlverstandenen Fatalismus heraus. Man muß lernen, bestimmte Dinge zu sehen wie sie sind, selbst wenn sie sich nicht mehr nach dem gestalten lassen, was wir für das (für uns) Beste halten. "Der Mensch" ist eine kurze Episode auf diesem Planeten. Aber es ist durchaus vorstellbar, daß er Bedingungen schafft, unter denen er selbst auf diesem Planeten nicht mehr wird existieren können. Wenn ein solcher Prozeß im Gang sein sollte, dann heißt das zunächst, diesem Prozeß ins Auge zu sehen. Unser verschwundener Professor redet von einer Vermüllung der Welt, oder auch von einer Elementarwerdung des Mülls. Zunehmend dringt der Müll in Erde, Wasser, Luft und Feuer ein, er wird zum Allesdurchdringer. Das bedeutet: über den Umweg Müll, über seinen Schatten, schafft der Mensch es, Daseinsbedingungen auf diesem Planeten zu definieren. Innerhalb dieser Definition wird vielleicht kein Platz mehr sein für die Bioform Mensch, oder vielleicht nur für die Kulturform "des Menschen". Es mag sein, daß Menschen die katastrophische Zustände überleben und sich wieder in Nischen ansiedeln werden; daß der Prozeß, der aus verschiedensten Kulturen von Menschen zu der Einen Menschheit geführt hat, seine Richtung wieder umkehrt; und zwar ausgelöst durch die katastrophischen Effekte, die die vereinigte müllproduzierende Menschheit geschaffen hat.

Frage: Aber wir haben doch schon nahezu tagtäglich eine Fülle katastrophischer Effekte. Wenn ich die Zeitung aufschlage, lese ich, daß die Astronauten den "blauen" Planeten nicht mehr sehen können, weil ein Dunstschleier um ihn herum ist. Wie groß muß denn die Katastrophe sein, daß es vielleicht noch ein Überleben der Menschen gibt - und sei es in kleinen Nischen?

Antwort: Da kommen wir an einen Punkt, der uns vielleicht zunächst als großes Paradox anmutet: Es könnte so sein, daß weniger gegen den Müll tun, mehr sein könnte. Es ist denkbar, daß Umwelttechnologien und staatliche Eingriffe einen Produktionsprozeß am Laufen halten, künstlich am Leben erhalten, der vielleicht schon in einer selbstregulierenden Funktion umgekippt wäre, dessen Verlängerung aber bedeutet, daß der Zustand, der dem folgen wird, um so katastrophaler sein wird.

Frage: Wenn Sie sagen: wenn wir uns weniger darum kümmerten gegen den Müll zu arbeiten, würden wir mehr für den Menschen arbeiten...

Antwort: Das ist zunächst eine Hypo-these, und keine These. Was ich sagen will, ist, daß es angesichts der Müllmengen und der Müllsorten, die uns über den Kopf wachsen, nicht mehr so sicher ist, daß man mit herkömmlichen, v.a. technischen Frage- und Problemstellungen der Materie zu Leibe rücken kann; und daß die Zeit, wie sie vom Planeten Erde ins Spiel gebracht wird, vielleicht doch schlauer ist als der Mensch mit seinen Plänen.

Frage: Das heißt aber doch, daß wir in dem mitten drin stecken, was man gemeinhin eine Apokalypse nennt.

Antwort: Apokalypse heißt ja Offenbarung. Und das wiederum bedeutet, es können nie nur die Umstände apokalyptisch sein, sondern auch das Bewußtsein muß apokalyptisch sein, denn ihm muß es sich offenbaren. In diesem Sinn sind die Arbeitskladden, die der Müllprofessor uns hinterlassen hat, sicher eine apokalyptische Schrift.

Frage: Aber wie kommt es zu einem solchen apokalyptischen Bewußtsein? Also wie kommt es überhaupt dazu, daß der Mensch sozusagen mehr von seiner Kehrseite sich einholen läßt, als daß er etwas Gutes für sich tut? Läßt sich das sagen anhand der Müllberge, in denen wir sitzen? Was ist es für eine Entwicklung, die der Mensch durch­gemacht hat, daß er sich zum Sklaven seines Mülls entwickelt?

Antwort: Zum einen wurden Errungenschaften im Kampf gegen den Müll immer wieder vergessen und mussten später durch bedrohliche Zustände und unter ungeheuren Anstrengungen erneut gemacht werden. Der Müll kommt immer nur katastrophisch ins Bewußtsein. Er ist das, womit der Mensch nichts zu tun haben will, obgleich er ihn ständig produziert. Zum anderen steht der Müll unter demselben Wachstumsgesetz wie alles, was sich in der Triade Mensch-Produktion-Müll befindet. Die Menschen werden mehr und mehr, ihre Produkte werden mehr und mehr, und entsprechend wird der Müll mehr und mehr. So wie die Ausscheidung immer nur vom lebenden Körper kommt, eine Lebensfunktion ist, so ist der Müll auch Zeichen für eine nicht tote, sondern übervitale Kultur - eine Kultur, die, wie ihre Metapher, der Krebs, das innere Maß verloren hat und unkontrolliert wuchert.

Frage: Das ist doch Teil unserer Kulturgeschichte: Der Mensch hat sein inneres Maß verloren, sonst wäre es nicht soweit gekommen.

Antwort: Ja, der Müll ist ein Spiegel. Der Müll entsteht nicht ohne den Menschen. Leben und Tod gibt es bereits vor dem Menschen, Müll als solchen gibt es erst mit dem Menschen. Vielleicht könnte man auch umgekehrt sagen, dass es "den Menschen" erst mit dem Müll gibt, der als solcher bleibt.

Frage: In Ihrem Buch führen sie die Stämme an, die früher anders mit ihrem Müll umgegangen sind. Dahin kann man ja nicht zurück, man kann einen Prozeß ja nicht rückwärts laufen lassen. Dennoch würde sich auf einer anderen Ebene, also im Sinne einer Spirale, ein Kreis schließen.

Antwort: Es gibt das Wort: "Nur Stämme werden überleben." Das ist ein auf die Zukunft gerichtetes Diktum. Es ginge also gar nicht um eine Rückkehr, sondern um eine Ankunft. Es kann sicherlich keine willentliche Rückkehr in Zustände geben, die die Geschichte verlassen oder überrollt hat. Aber am Ende der Geschichte könnte es katastrophische Effekte geben, in einem apokalyptischen Geschehen, in dem Strukturen der Universalisierung der Einen Welt mit ihrer Einen Menschheit zersprengt werde, so daß vielleicht durch eine List der Nachgeschichte Kulturformen entstünden, die man vielleicht wieder Stämme nennen könnte.

Frage: Mir fällt es schwer, jetzt nicht im negativen Sinne fatalistisch zu werden. Also das ist schon ein ziemlicher Schwebebalken, den Sie da zwischen Optimismus und Pessimismus aufbauen, zumindest für mich. Das würde ja bedeuten, daß es keine bewußte Möglichkeit gibt, diesen Prozeß zu stoppen. Wir können überhaupt nichts dagegen machen. Dabei denke ich auch an die vielen alternativen Bewegungen. Das wäre dann ja alles sinnlos. Die können dann nur alle auf die große apokalyptische Katastrophe warten.

Antwort: Was geworden sein wird, übersteigt unser jetziges Wissen. (Deswegen vorhin auch nur die Rede von einer Hypothese.) Irgendwann wird es die Zukunft gezeigt haben. Aber wir sind unzweifelhaft in eine Epoche eingetreten, in der sich bestimmte Prozesse, die der Mensch lange glaubte steuern zu können, nicht mehr steuern lassen.

Frage: Welche Antwort ließe sich denn im Müll finden, wenn man sich ihm mit einer neuen Fragestellung näherte?

Antwort: Die Antwort, die im Müll gefunden werden könnte, wäre zunächst vielleicht jene, daß man den Zwang, mit dem Müll fertig werden zu müssen, hinter sich lassen kann; daß man erkennt: der Müll ist ein schicksalhafter Seinszustand der Dinge, die durch den Menschen geschaffen worden sind, ein Seinszustand, der anwächst und noch den, der ihn produziert hat, mit erfaßt - bis zur Müllwerdung nicht nur dieser Welt, sondern des Menschen. Die Freiheit, die dort im Müll aufgefunden werden könnte, wäre dann vielleicht die, sich dessen, was in dieser Welt als sinnhaftes Treiben gilt, zu entledigen. Ähnlich formulieren das auch die in unserem Buch zitierten Mitglieder der Mu­toid Waste Company, die von allen Leuten für verrückt gehalten werden. Sie finden das prima. "Wer will schon nor­mal sein?" fragen sie.