Volker Grassmuck und Christian Unverzagt

Die Enthüllung des Müll-Systems

Eine metarealistische Bestandsaufnahme

Berlin 1989 

Das Müll-System [> edition suhrkamp, Frankfurt/M. 1991] basiert auf Recherchen zur Geschichte und Gegenwart aller möglichen Ar­ten von Abfällen. Woher der Müll kommt, ist durch die relativ junge Abfallwissenschaft und in zahlreichem Pressematerial sowie durch eigene Nachforschungen gut dokumentiert. Wohin mit ihm, ist eine ungelöste Frage. Eins jedoch ist deutlich: die Industriegesellschaft läßt den Müllberg nicht zurück, sie türmt ihn vor sich auf. Die industrielle Produktionsweise wird von ihrer Vergangenheit nicht nur eingeholt, sie ist von ihr längst überholt worden. Die ungeheu­erliche Zukunft, die sich in Schatten des Mülls auftut, läßt das gesammelte Material in einem neuen Licht erscheinen. Das Müll-System unterscheidet sich also – sieht man von den zu­sammengetragenen Quellen aus Kunst und Theorien einmal ab – nicht so sehr durch die ver­wendeten Daten von abfallwissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern durch die Be­trachtungsweise, mit der es dieses Material verknüpft.

 

Im Vorwort der Herausgeber legen wir dar, wie es zu dem Text des Buches kam. Auf ei­ner Deponie fanden wir die Kladden eines verschwundenen Abfall-Experten, die unsere eige­nen Recherchen überflüssig machten. Wir entschlossen uns, nur als Herausgeber dieser Texte zu fungieren, die den Müll historisch und systematisch erfassen, ihn aber vor ­allem im Ver­lauf mehr und mehr philosophisch zu ergründen suchen. Am Ende ist es nicht mehr so sicher, daß WIR den Müll machen; vielleicht „macht“ er uns, so wie wir sind und gewesen sein wer­den. MENSCH und MÜLL erscheinen als zwei korrelierende Größen in einer fatalen Liaison.

 

Die Einleitung beschäftigt sich mit der Etymologie von Abfall, Müll und Schrott. Hinzu kommt ein Streifzug durch Abfall-Metaphern, die sich in medizinischen, psychologischen, soziologischen, philosophischen, utopischen und literarischen Texten finden.

 

Das erste Kapitel ist dem Vor-Industrialismus gewidmet und hat es vornehmlich mit or­ganischem Müll, Trümmern und Scherben zu tun. Es wird ein Zeitraum von nicht weniger als zwei Millionen Jahren erfaßt. Der Müll enthüllt sich als Dokument der ersten Menschen. Die Erkenntnisse, die diesem Kapitel zugrundeliegen, sind mit der Archäologie verknüpft. Diese hat auch die ersten Städte ausgegraben, die sich zwangsläufig der Müllbeseitigung zuwenden mußten. Durch die urbane Konzentration von Menschenmassen wird die Müll-Menge zum Problem. Mittels religiöser Vorschriften und erster ­technischer Konstruktionen versucht man, seiner Herr zu werden. Neben den Reinlichkeitsgeboten praktiziert man früh schon die Sammlung, z.T. bereits nach Müllsorten getrennt, Kompostierung, Verbrennung und Depo­nierung. Die Geschichte der Müllbeseitigung verläuft jedoch nicht linear. Die Religionen wandeln sich und gehen schließlich als Anti-Müll-Faktor unter, während die Technik nach ihrem mittelalterlichen Dornröschenschlaf wie der Phönix aus der Asche steigt.

 

Um den Industrialismus geht es im zweiten Kapitel. Wir sehen alle Lösungsversuche hinter dem Problem herhinken. Dieses besteht nicht mehr nur in der rasant zunehmenden Menge des Mülls, sondern auch in seiner neuen Stofflichkeit. Die industrielle Produktion läßt resistente Materialien zurück, die nur unter dem Primat der Nützlichkeit aus dem Schatten der Aufmerksamkeit treten können. Der Altwarenhandel wird zum Geschäft. Erst die Medizin entdeckt den Abfall als gesellschaftliches Problem imGesundheitszustand untauglicher Sol­daten. Die industrielle Kosten-Nutzen-Rechnung verunmöglicht aber jeden strukturellen Zugriff auf die Ursachenherde. Die Produktion um jeden Preis ist das Gebot der Epoche. Die Kunst richtet als erste ihr Augenmerk auf die Rückseite des Prozesses – und findet Gefallen an nutzlos gewordenen, die Zeit jedoch überdauernden Materialien wie dem Schrott. Der Ab­fall ist das Unverwertbare und als solches ein Kuriosum.

 

Drittes Kapitel: Erst mit Beginn der 60er Jahre entsteht ein Gefahrenbewußtsein gegen­über dem Abfall. Ein regelrechter Mülldiskurs entsteht, indem Menge, Material und Entsor­gungsmöglichkeiten der diversen Abfälle erfaßt werden. Es werden erste Maßnahmen zur Einhegung der wilden Müllkippen unternommen. Im Zeichen der bedrohlichen Verunreini­gung von Luft und Wasser deutet sich das Aufkommen eines ökologischen Gewissens der Industriegesellschaft an. Der Staat ergreift Maßnahmen zur Schaffung einer Müll-­Entsor­gungsstruktur und entwickelt einen Rechtsrahmen. Daß der Müll zum Politikum geworden ist, erweist sich auch in dem Aufkommen beschönigender Metaphern, mit denen öffentlich über seine Existenz gesprochen wird. Noch außerhalb des öffentlichen Bewußtseins entstehen Wissenschaften, die Rezepte gegen die drohende Vermüllung entwickeln sollen. Der Geist der Zeit glaubt, mit entsprechendem Know-how aller Probleme Herr werden zu können. Der Ökonologismus entsteht. Die Entsorgung wird zum Geschäft gemacht und so sollen Ökono­mie und Ökologie miteinander versöhnt werden.

 

Das vierte Kapitel präsentiert die Materialien und ihre Zeiten. Papier; Glas, Plastik, alte Batterien, Kühlschränke, Autowracks, metallische Produktionsrückstände, gefährliche Che­mikalien, konzentriertes Gift in Filteraschen usw. werden gesondert aufgeführt und auf ihre Wiederverwendbarkeit bzw. die ihr angemessene Entsorgungsstrategie betrachtet. Es zeigt sich, daß den Materialien verschiedene Zeitformen angehören und daß ihre beharrliche Rück­ständigkeit an den Orten ihres Überdauerns eine eigene Topographie ausbildet, die sich mit der Wunschlandschaft des Ökonologismus immer weniger in Deckung bringen läßt. Die To­pographie des Mülls ist ein Zeit-Raum, der sich durch spezifische Bewegungsgesetze aus­breitet. Um Orte des Mülls, von denen aus er seine Wege durch die Zeit nimmt, geht es in den folgenden Kapiteln.

 

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit Recycling. Recycling ist nicht nur eine Verfah­rensart, sondern auch eine Hoffnung: daß sich der Verwertungsprozeß in eine Kreisform (zu­rück-)biegen läßt, um ohne Ende weiterzulaufen. Nach dem Noch-Verwertbaren wird das Wieder-Verwertbare sondiert. Was gestern noch Müll war, wird heute zum sekundären Roh­stoff. Die industrielle Beschleunigung der Dinge kann nicht nur in einem Augenblick des Un­falls aus einem Gebrauchsgut Schrott entstehen lassen, sie kann den Prozeß auch wieder um­kehren. Allerdings erweist sich, daß es nur eine begrenzte Reversibilität der Dinge gibt. Ein entropischer Fluch lastet auf dem Unterfangen, das Vernutzte wieder ins Reich des Nützli­chen heimzuholen. Das Papier wird dunkler und die Kontraste unschärfer. Die Kosten der Wiederaufbereitung sind immens und die Energie, die aufgebracht werden muß, um weitere zu gewinnen, wächst. Manche Dinge, wie abgebrannte Uran-Brennelemente, lassen sich – unter Ausstoß von immer mehr Müll – überhaupt nur noch einmal wiederverwenden. Dann reihen sie sich ein in die Liste der ausgestoßenen Stoffe, für deren Quarantäne erst noch Orte gefunden werden müssen.

 

Ein Unterkapitel schweift über die bewohnten Müllkippen der Dritten Welt wie den Smokey Mountain in Manila und über Recycling-Märkte wie den Bukuki in Niamey. Woh­nen I stellt eine Form effizienten Recyclings vor, wie sie den hochindustrialisierten Ländern im Zeichen des Giftmülls nur noch als verlorenes Paradies erscheinen kann.

 

Das sechste Kapitel handelt zunächst von der Deponie. Auf ihr soll das endgültig nicht mehr Verwertbare gelagert werden. Aber das uralte Verfahren erweist sich neuerdings als nur äußerst bedingt tauglich zur Abfall“beseitigung“. Die wachsende Müllmenge verschlingt den Deponieraum, neue Standorte lassen sich nur noch schwer finden und die Akzeptanz der Be­völkerung nimmt ab. Am problematischsten ist aber die Impertinenz der Stoffe, die sich nicht wie Menschen in Lagern vernichten lassen. Sie sickern in Richtung Grundwasser ab und entweichen als Gas in die Luft. Dieser Entgrenzungs-Tendenz entgehen auch die grandiosen Deponie-­Konstruktionen nicht, die den Müll bei der Landgewinnung als Halbinsel oder zu einer monumentalen Pyramide verarbeiten. Die Ummantelung soll dieser Tendenz Einhalt gebieten. Da aber jeder Mantel auch nur ein Material ist, das mit der Zeit zersetzt wird, wird das Problem nur der Zukunft untergejubelt.

 

Ein Unterkapitel beschäftigt sich mit den „Altlasten“. Die Dimensionen haben sich ver­schoben. Nicht mehr nur ausgelaugte Produkte und Produktionsstoffe gehören nun zum Müll, sondern auch die Erde, in die sie gedrungen sind. Bedauerlicherweise ist es dieselbe Erde, auf der wir produzieren (und daher auch leben) müssen. Jetzt muß der Boden recyclet werden; nicht um ihn verkaufen zu können, sondern um ihn überhaupt noch als Ressource des eigenen Lebens zur Verfügung zu haben. Der Aufwand ist bei geringem Effekt enorm und unverse­hens bilanziert die Wirk-Zeit des Mülls die Gewinn-Rechnung der Ökonomie um. Aber eine neue Hoffnung tut sich auf: neben chemischen und thermischen Verfahren werden biologi­sche Sanierungsversuche unternommen. Mikroorganismen, die man zuvor als Schädlinge be­kämpft hat, sollen den Schaden wiedergutmachen. Ein gefährliches Duell, das inszeniert wird, da auch diese Organismen dem Entgrenzungsgesetz gehorchen.

 

Die Entgrenzung des Mülls überschwemmt die Städte und Landstriche. Wohnen II han­delt nicht mehr von der Deponie, die zum Lebensraum wird, sondern vom Lebensraum, der zur Deponie wird. Hier geht es u.a. um das englische „flytipping“, die holz“schutz“mittelverseuchte Wohnung und Krankenhausmüll am Strand.

 

Die Verbrennung ist ein Verfahren, das die Deponie entlasten soll. Sie verschafft enorme Volumenreduktion, fordert dabei aber ihren Preis. Ascheregen und Staub lassen die Luft nicht mehr als Medium eines sorgenfreien Verschwindens denken. Das Verlagerungsgesetz macht sich geltend. Verbrennt man feste oder flüssige Stoffe, hat man deren Giftigkeit in der Luft. Filteranlagen müssen daher die Schadstoffe zurückhalten. Das Volumen ist reduziert, dafür ist der komprimierte Rest umso giftiger. Die Konzentration der Schadstoffe, die nun gelagert werden müssen, führt wieder zum Problem zurück, sie dauerhaft an der Entgrenzung zu hindern. Es ist leider nicht der ökologische, sondern ein Teufels-Kreis.

 

Ein Sonderteil über Giftmüll faßt das Dilemma anschaulich zusammen. Als Zwischen­hoffnung darf gelten, daß der Ausweg bereits gefunden ist. Er formuliert sich in dem Motto Vermeiden. Leider ist dieser Weg unbegehbar, denn er liefe auf ein Vermeiden der Industrie­gesellschaft selbst hinaus. Es scheint, als folgte diese einem höheren Auftrag. (Die Entde­ckung des Müll-Systems kündigt sich an.)

 

Das siebente Kapitel beschreibt die Bewegung, in die sich der heimatlose Müll setzt, der nirgends bleiben kann. Sie wird von der verzweifelten Hoffnung auf sein Verschwinden be­gleitet. Es geht um Transporte, Joschka F., Geisterschiffe und daher nicht zuletzt um die Meere und ihre Zauberkraft des Verschwindenlassens. Mit dem Verschwinden haben wir uns der Schicksalsmacht des Mülls bereits erheblich genähert. Was in der Welt, so wie wir sie kennen und bewohnen, verschwindet, sind allerdings zunächst nur die Verantwortlichen für skrupellose Müll-Transporte. Der Müll selbst feiert in Form angeschwemmter Fässer und Robben oder auch in der Zunahme von Krankheitsraten sein unwillkommenes Auftauchen.

 

Das achte Kapitel nimmt sich die definitive Verbannung des Mülls aus dieser Welt vor. Es handelt vom Atommüll. Bei dem Versuch, ihn zu entsorgen, begegnen wir noch einmal allen Verfahren, Orten und Bewegungsformen. (Der Kreis beginnt sich zu schließen, wenn auch nicht in unserer Welt.) Er muß aus der Biosphäre rausgeschafft werden. Als vorläufige Endlösung will man ihn in Untertagedeponien einlagern. Die Lithosphäre soll ihn von allem Einfluß auf das irdische Leben abkapseln. Mit der Einreihung in ihre Zeitzyklen verschwände er zumindest aus unserem Vorstellungsvermögen. Allerdings entdeckt man ständig Wege, über die seine Abkömmlinge aus der Unterwelt zu uns zurückkehren könnten. Die Entsor­gungskünste durch beschönigende Metaphern haben ausgespielt und die Möglichkeit, alles noch einmal zurückzunehmen, sind vorbei. Alle Trümpfe sind in der Hand des Mülls.

 

Wenn ihn die Erde nicht bei sich behalten will, soll ihn der Himmel aufnehmen. Atom­müll ins All! ist nicht nur die letzte Karte der Science-fiction-Freunde. Ein ungleich größerer Betrag an Energie als für die Produktion von Gütern müßte nun zu ihrer Entsorgung aufge­bracht werden. Eine rückwärtige Produktion für die Leistungen der Vergangenheit. Vielleicht geht es aber mehr um ein trotziges Duell mit der Schicksalsmacht, die den Müll bei einem Unfall – vielleicht gleich nach dem Start, etwa in Challenger-Höhe – mit einem Mal ins Über-All verstreuen könnte.

 

Das neunte und letzte Kapitel ist zwangsläufig der Nachwelt gewidmet; einer vielleicht schon anachronistisch gewordenen Lieblingsentität unserer Vorstellungswelt. Der Abfall von der Kultur herrscht über Zeiten, die diese selbst nie dauert. Nun ist der Transport von Zei­chen, mit denen man auf das gelagerte Unheil hinweisen kann, das Problem. Erst bei ihrem Transport kommt es zu einem wirklichen Verschwinden: dem ihrer Bedeutungen. Alles kommt anders wieder als gedacht. Es geht um Semiologie, Paläonthologie, die Müll-Kirche, einen geheimen Orden und eine höhere Einsicht in das Müll-System.

 

Ein Glossar am Ende des Buches soll helfen, die Stilblüten des Müll-Fach-Jargons besser zu verstehen.

 

Berlin, noch vor dem Mauerfall