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Volker Grassmuck und Christian Unverzagt

 

 

 

Das Müll-System

Eine metarealistische Bestandsaufnahme

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort der Herausgeber

 

»... und zu verderben,
die die Erde verderbt haben.«
 (Off. II/I8)


Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschlossen, die Aufzeichnungen, die uns das Schicksal zugespielt hat, der Öffentlichkeit vorzulegen. Die Ungeheuerlichkeit der darin aufscheinenden These hat uns dazu bewogen, alle Bedenken über den Geheimnisbruch und eine mögliche persönliche Gefährdung zurückzustellen.

Wir waren seit zwei Jahren damit beschäftigt, ein Buch über Müll & Schrott zu recherchieren. Wir sind dabei allen Verzweigungen, die sich uns im Material - in den Texten und im Gegenstand selbst - auftaten, gefolgt. Der Weg war somit kursorisch. Und gerade deshalb führte er uns folgerichtig zu dem Punkt, an dem wir die verborgenen Aufzeichnungen fanden, die unsere Arbeit schließlich überflüssig gemacht haben.

Unsere Recherche führte uns durch die Geschichte, über Müllplätze, in Kunstgalerien, in Gesetzestexte, in die Belletristik und schließlich unter die Erde. Dort, in dem Stollen eines ehemaligen Kohlebergwerks bei Braunlage nämlich, trafen wir auf ein computergesteuertes Müllsimulationssystem einer privaten Forschungs- und Ausbildungseinrichtung. Es gelang uns auf eine Weise, die wir erst im nachhinein als die einzig mögliche erfassen konnten, einen Pfad in diesem Simulationsmodell zu beschreiten, den der Autor der vorliegenden Texte dort hinterlassen hatte. Er führte uns auf einigen weiteren Umwegen zu drei Büchern mit handschriftlichen Aufzeichnungen. Es waren auf den ersten Blick Tagebücher oder Arbeits-Kladden. Beim Lesen entpuppten sie sich als manchmal obskurer Einblick in ein in seinem Umfang atemberaubendes Geflecht aus Macht und Mysterium, das wir, dem Autor folgend, Das Müll-System nennen.

Der Schlüssel zu diesen verborgenen Zeugnissen lag an einer Stelle, die, zumindest für die Fachöffentlichkeit, leicht zugänglich war. Seine Funktion als Sicherheitssystem bekam die Müllsimulation durch eine mögliche, aber für den Uneingeweihten unwahrscheinliche Lesart. Die Vermutung drängt sich auf, daß hier auf eine aufwendig ausgeklügelte Weise etwas sehr Gefährliches gesichert werden sollte. Etwas, vor dem die Umwelt und die Öffentlichkeit geschützt werden mußte - oder das umgekehrt vor der Öffentlichkeit geschützt werden sollte? Oder sollte dieses Wissen vielmehr vor einer anderen, viel größeren Macht verborgen bleiben? Der gefährlichste Müll, dem wir auf die Spur gekommen waren, ist eine Information.

Aus den Texten läßt sich wenig über den Autor erschließen. Er war Professor an einem Institut für Abfallwissenschaft. Er war kein Naturwissenschaftler, sondern ein vielseitig gebildeter Akademiker - eine Art Müllgenie. Müll und Abfall hat ihn bereits lange vor der Gründung der Fakultät interessiert. In einem »Der Decodierer« überschriebenen Textfragment charakterisiert er sich folgendermaßen: »Ich war, nein, ich bin ein privater Forscher. All meine berufliche Tätigkeit war mir doch nur ein Mantel, den ich mir zum Schutz vor den Stürmen gesellschaftlicher Entrüstung angezogen habe, um mein Leben mit dem Abfall von unserer Existenz verbinden zu können. Ich war immer ein Suchender, den eine unwiderstehliche Faszination geleitet hat; eine Faszination nekrophiler Abenteuerei, dachte ich lange. Später sah ich mich als Wahrheitssucher.« Über das Erstaunen, das er mit seinem Ansuchen auslöste, an dem Anfang der 70er Jahre gegründeten Institut forschen zu können, schreibt er an einer Stelle: »Sie begreifen nicht, daß sie den Phänomenen nicht gewachsen sind.« Und an einer anderen heißt es »Der Betrieb der Welt erhellt seinen Sinn vom Gipfel einer Deponie, wenn nur das Kreischen der Möwen die Stille zerreißt.«

Es ist uns nicht gelungen, Identität und Wirkungsfeld des Professors zu rekonstruieren. Die frühen Aufzeichnungen, die einen Schluß auf die Gründungszeit seines Instituts zuließen, sind gar nicht datiert. Spätere Eintragungen enthalten zwar Daten, aber keine Jahreszahlen. Zeitgeschichtliche Bezüge lassen auf einen Zeitraum von mindestens 18 Jahren schließen. Nachforschungen bei den in Frage kommenden Einrichtungen lassen es zweifelhaft erscheinen, ob es tatsächlich in der Bundesrepublik lag, ja ob es sich nicht vielmehr um ein von unserem Autoren entworfenes mögliches Institut für Abfallwissenschaft handelt. Dennoch sind alle Angaben von einer gründlichen Kenntnis des tatsächlichen Wissenschaftsbetriebes getränkt. Alle Angaben über Orte und Personen, soweit sie ihn selbst betreffen, sind sorgfältig getilgt.

Ob der Autor noch lebt, ist uns folglich nicht bekannt. Wir haben aber Grund zu der Annahme, daß es sich beim vorliegenden Müll-System um seine Hinterlassenschaft handelt.

Die Kladden enthalten Texte sehr unterschiedlichen Festigkeitsgrades. Neben ausgearbeiteten Vorträgen und Artikeln finden sich Notizen, fixierte Anregungen aus Gesprächen und Exzerpte, die möglicherweise zunächst als Vorarbeiten für eine Veröffentlichung gedacht waren, weiterhin Informationen, die ihm von Dritten anvertraut worden waren, so daß der eine Verfasser schließlich in dem andern drinsteckt wie die Schachteln in einem chinesischen Schachtelspiel. Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschlossen, nichts zu verändern, nach unserem Gutdünken auszuarbeiten oder gar zu zensieren. Wir wollten die Gedankenwelt unseres Meisters, die neben der Bestandsaufnahme von Fakten immer wieder zu philosophischen Betrachtungen und Aphorismen führt, möglichst authentisch weitergeben.

Der Tonfall der Texte reicht von der nüchternen Arbeitsnotiz bis zum religiös gefärbten Manifest. Zum Ende hin häufen sich kosmologische Reflexionen. Hier wird die Stimmung dunkler. Das Geheimnis lastet bereits auf unserem Autor, der seine Mitwisserschaft offenbar nur um den Preis seines Lebens oder einer noch schlimmeren Strafe hätte bekennen können. Also vertraute er sich, gleich Midas' Friseur der Erdhöhle, seinen Arbeitskladden an. Ein Beben, ein gewisser Horror kehrt wie ein unruhiger Traum immer wieder. Doch noch hier hat er sich zurückgehalten, das Geheimnis nicht vollständig preisgegeben, als wage er nicht einmal, seinen inzwischen wohlverborgenen Arbeitsheften die ganze Wahrheit anzuvertrauen.

Ab dem Zeitpunkt einer ersten Vermutung über die Existenz des Müll-Systems hat er die Arbeitstagebücher mit immer ausgefeilteren Maßnahmen vor unbefugtem Einblick geschützt. Die Art der Zugangssicherung zu der Geheimnisdeponie, in der wir sie schließlich vorfanden, legt die Vermutung nahe, daß er sehr wohl an einen zukünftigen Leser dachte. Ein Leser jedoch, der gleich ihm selbst den Weg der zufälligen Suche, des zielgerichteten Verlaufens in der Müll & Schrott-Materie zurückgelegt hat. Der Schlüssel ist also das genaue Gegenstück zur Entfaltung des Geheimnisses in den Kladden selbst. Wohlgemerkt, die einzelnen Bestandteile des Schlüssels stellen selbst kein Geheimnis dar. Jeder, der sich die Mühe macht, wird sie vorfinden. Zum Schlüssel werden sie erst durch die Zusammenschau, so wie die über ganz Europa verstreuten Megalitformationen ihren Sinn erst dem Kartographen am Reißbrett offenbaren, der die komplexen Beziehungen zwischen ihnen auf einen Blick erkennt.

Was er von seinem durch das Sicherungsverfahren selektierten Adressaten erwartete, ist schwer zu mutmaßen. Erhoffte er sich insgeheim vielleicht, daß noch ein Zeitgenosse Das Müll-System finden und veröffentlichen würde? Oder rechnete er erst in zukünftigen Generationen mit einem Leser und betrachtete er deshalb sein Vermächtnis als eine Nachrede auf die dunklen Vorzeiten des Mülls? Wir wissen, daß unser Meister sich intensiv mit der Übermittlung von Wissen über geologische Zeiträume hinweg befaßt hat. Erwartete er, daß sich gänzlich neue Bioformen, gar Außerirdische mit der Entzifferung der folgenden Seiten abmühen werden? Über die Frage nach dem von unserem Meister antizipierten Leser läßt sich nur spekulieren. Die Frage nach dem tatsächlichen Leser des Müll-Systems wird sich beantwortet haben, wenn Sie, verehrter Müllinteressent, die letzte Seite umschlagen werden.

Die Texte sind weitgehend chronologisch angeordnet, doch gibt es immer wieder nachträgliche Ergänzungen zu früheren Einträgen, Kommentare, die, vom weiterreichenden Kenntnisstand des Autors aus, frühere Beobachtungen richtigstellen oder ihre Implikationen deutlicher aufzeigen. Viele Texte sind mit Überschriften versehen, die auf geplante Kapitel seines Buches hinweisen. Als Herausgeber sind wir im wesentlichen der gegebenen Ordnung gefolgt. Da sich der Autor selbst jedoch nicht hartnäckig an eine Chronologie gehalten hat, haben wir uns die Freiheit genommen, dort wo es die Klarheit des Zusammenhangs gebot, Umstellungen vorzunehmen. Spätere Hinzufügungen des Autors und Querverweise von uns finden sich z. T. in den Fußnoten.


Xiamen und Tokyo, im Dezember 1989

Volker Grassmuck
Christian Unverzagt