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Volker Grassmuck und Christian Unverzagt

 

 

 

Das Müll-System

Eine metarealistische Bestandsaufnahme

 

 

 

 

 

 

 

 

Informationsmüll

 

Ich habe gerade druckfrisch den »Abfall-Katalog« des Bundesamtes auf den Tisch bekommen. Beim Durchblättern sticht vor allem die ungeheure Fleißarbeit ins Auge, die dahintersteht. Aber bevor ich mir den Wälzer genauer vornehme, das habe ich schon gemerkt, sollte ich erstmal einige Gedanken zu den verschiedenen materialen und immateriellen Erscheinungsformen des Mülls fixieren, die mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf gehen. Sonst besteht nämlich die Gefahr, daß sie von der Informationsflut zugemüllt werden. Das ist übrigens typisch - zum Stichwort »Informationsmüll« gibt es natürlich keinen Registereintrag. Nein, da müssen sich schon noch andere Ordnungs- und Klassifizierungssysteme für den Müll finden lassen, als die von Techno- und Bürokraten.

Materialien: Abfall ist keine absolute Kategorie. Abfall konstituiert ein Verhältnis zwischen einem Ausgangsstoff und einem Endstoff - Transsubstantiation / Transmutation der Alchimie / Stoffwechsel / Alterung, Verfall und Tod / Mutation und Selektion etc.

1. Abfall entsteht bei der Herstellung aus und Säuberung von einem Rohstoff (als Späne beim Hobeln, als Nichtidentisches im Prozeß der dialektischen Vernunft)

2. Abfall ist der Endzustand eines Produkts nach der Phase seiner Verwendung

Der zweite Aspekt kommt in den gängigen ökonomischen, technischen, philosophischen Diskursen nicht vor. Nur als Verschwundenes, Vergessenes, als Negativ.

Ökonomisch spricht man von Zirkulation der Arbeitskraft, des Geldes und der Ware, wobei die Ware nicht eigentlich zirkuliert. Sie wird produziert, verbraucht und was von ihr übrig bleibt landet auf dem Abfall - also ein linearer, gerichteter Prozeß. (Ausnahme: der Diskurs der Abfallwirtschaft, der den der Ökonomie im großen von seinem Ende her aufnimmt.)

Technisch ist die Rede von Verschleiß als Altern vor der Zeit, von der Ersetzung durch neue Maschinengenerationen (wobei die ersetzten im Diskurs ausgespart bleiben). Der Maschinenbau kennt zwar abfallproduzierendes (spanendes) Formen (Fräsen, Hobeln) nach 1., aber nicht den Abfall nach 2. (höchstens als Transsubstantiation: nicht Schrott-Maschinen, sondern sekundärer Rohstoff).

Auch philosophisch ist die Rede von Abfall nach 1. bei der Herstellung der einen Welt durch Vernunft, von Konsens durch Diskurskontrolle etc., bei der Späne fallen. Aber das Denken läßt keine Abfallhalden hinter sich zurück. Verbrauchte Ideen werden entweder recycelt (in nachfolgenden aufgehoben) oder lagern in Bibliotheken neben den anderen, wo man ihnen nicht ansieht, daß sie Schrott sind, und aus denen sie eines Tages in einer Renaissance wieder auftauchen. Idealiter. Natürlich wird da auch einiges unter den Teppich gekehrt.

Gegen ein systematisches Recycling der Texte richtet sich Virilio: »Die Modernität taucht nicht auf als Filiation, wie Foucault sagen würde, als Genealogie. Sie taucht nur auf als Überraschung, Zufall, Unfall. Sie ist der Schimmel im Penicillin. Daher die Absage an die Bibliotheken, es sei denn man fischt sich aus ihnen wie aus Abfalleimern Stücke von Frauen, Stücke von Lastwagen, Vaubans und Fliegende Festungen.«"(1)

... und Immaterialien: Wenn Abfall also keine Substanz, sondern ein Verhältnis ist, dann müssen die ökonomischen und technischen Diskurse ihren Gegenstand verfehlen. Ihnen entgeht, daß die Verwertung eine Umwertung ist; daß Wertung das Setzen von Differenzen meint, das Bedeutung schafft; daß sich nicht in erster Linie Materialien verwandeln, sondern die Bedeutungen des Materials. Der Begriff des Recycling unterstellt, daß Materialien zirkulieren. Was tatsächlich zirkuliert, sind Bedeutungen, oder, um diesen hochangesetzten und aus der Mode gekommenen Begriff zu vermeiden, Informationen. Nur durch einen dichten Pelz von solchen Informationen hindurch können wir auf die Dinge (den Müll natürlich eingeschlossen) zugreifen. Ein Bild für dieses Verhältnis wären jene Handhabungsautomaten, mit denen Menschen hinter dicken Bleiglasscheiben hochradioaktiven Atommüll manipulieren. Wir befinden uns also in einer Welt aus Informationen, und die unterliegen anderen Gesetzen als jene, die die Materialwissenschaften für ihren imaginären Gegenstand entworfen haben. Die Grundoperationen, die für Information zugelassen sind, heißen Schreiben, Lesen, Löschen und Anhalten.(2) Darauf beruhen alle höheren Bedeutungsebenen der Information, und die können natürlich auch so aussehen, wie die Materialverehrer das gerne hätten, aber auch so, wie jeder x-beliebige andere, der die Grundegeln kennt, es gerne hätte.

Information ist nur ein möglicher Zustand im Zeichengewimmel, der ständig von der delete-Taste bedroht ist. Alles ist nur eine Umschrift, und es ist nur eine Lesart, die alles zum Müll werden lassen kann. Aber der Informationsmüll ist selbst ein fruchtbares Data-Biotop. Leere und Fülle wechseln sich aus wie Yin und Yang. Überfülle und Leere sind nur durch die Nuance einer Betrachtungsweise unterschieden.

Information verändert ihre Bedeutung ganz ähnlich durch Stoffumwandlung wie die Materie. Sie macht Metamorphosen durch. Eben noch Information, im nächsten Moment schon Datenmüll. Die Werbung hat die Vorgabe nicht nur hierfür gesetzt. Nicht nur das schock-artige Aufscheinen und sofortige Veralten, sondern auch die wechselweise Umwertbarkeit von Kaufinformation und Hochglanzabfall gibt das Modell für die Daten ab. Daten werden zur Information nur, wenn sie auf einen bestimmten Kontext hin gelesen werden. Und der ist wechselhaft, gleich-gültig, zu-fällig - eine Geschmacksfrage. Das Material, das in-formiert wird, um eine Information zu ergeben, ist genauso für alle Einschreibungen offen, wie die Lesarten sich keiner Beugung widersetzen. Das Prinzip des Informationsraumes besteht nicht in der Festlegung auf eine Möglichkeit, sondern in der Grenzenlosigkeit dieser Möglichkeiten selbst. Virtuell und virulent sind die Wirklichkeiten in der fließenden Welt der Information. Es gibt in ihr keine Vernichtung, nur Zustandsveränderung.

Das Material der Ware wird unter Energieeinsatz aus der Natur gewonnen oder im Labor produziert. Es wird über mehrere Schritte veredelt, mit anderen Materialien kombiniert und in eine funktionale Form gebracht. Dann wird es vernutzt und schließlich entsorgt. Für die Nettosumme geht dabei nichts verloren, außer Energie. Egal ob Recycling, Deponierung, Verbrennung, Meeresboden oder All; ob als Sero, Gift oder ästhetisches Ärgernis - die Stoffe bleiben uns erhalten. Das ist die Lehre des Ökologismus. Nichts verschwindet.

Für die moderne Kraftmaschinentechnik ist die Natur ein vorausberechenbarer Zusammenhang von Kräften. Apparatur und Experimente erzwingen, schreibt Heide-guerre,(3) »daß sich die Natur in irgendeiner rechnerisch feststellbaren Weise meldet und als ein System von Informationen bestellbar bleibt«. Es geht ihr nicht um ein Her-vorbringen, sondern um ein Heraus-fordern. Natur entbirgt sich den Grundlagenwissenschaften des industriellen Prozesses (und Heide-guerre) als Hauptspeicher des Energiebestandes, das Erdreich als Kohlenrevier, der Rhein als Wasserdrucklieferant. Kohle wird gespeichert, damit sie zur Stelle sei, um bestellt werden zu können, damit sie das Getriebe treibt. Damit erscheint selbst der Rhein als etwas Bestelltes. »Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten sind die Weisen des Entbergens. . . . Steuerung und Sicherung werden ... die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.« Alles Herausgeforderte geht in den Bestand dessen, was bestellfähig ist und was uns nicht mehr als Gegenstand gegenübersteht. Der Gegenstand verschwindet in dem Gegenstandslosen des Bestandes.

 

Allerdings gehört zum Bestand auch das, was vom Anstand Abstand genommen hat, der Müll. Das haben die Produzenten und ihre hilfsarbeitenden exakten Wissenschaften (und mit ihnen auch Heide-guerre) übersehen. Und wenn das natürliche Material (um wieviel mehr erst das unnatürliche) sich schon mit solcher Leichtigkeit mit seiner herausgeforderten informationellen Form austauschen kann, wie soll es dann zwischen ihrer Wert- und ihrer Abfallform eine Grenze geben. Nach dem Fall kommt immer der Abfall.

Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten - das sind die Bewegungen des Prozesses, der Müll produziert; es sind die Schlachtrufe des knowledge-engineering, das das Wissen zur Ingenieursaufgabe macht und sog. Information produziert; und das sind schließlich die Strategien, die auf den Mül angewendet werden. Steuerung und Sicherung sind die Paradigmen des industriellen Prozesses als Ganzem, der Information, des Mülls.

Erz, Metall, Stahl, Produkt, Schrott - das ist eine Wandlungsreihe der materiellen Ware. Die Wende vom Naturgegebenen, einem ursprünglichen Datum, zum Ver-Wendeten. Auch das verwendete Immaterielle hat einen Ursprung: die wirkliche Welt. Nur ist hier der imaginäre Status des Ausgangspunktes der Wandlungsreihe evidenter. Hier gibt es nichts zu erkennen, entdecken, hervorzubringen. Die prokrustische Gewalt des Herausforderns schafft zuallererst etwas, das nachträglich locker an eine mögliche Wirklichkeit geheftet wird. Es erscheint im zweiten Schritt als neues Gegebenes, als Daten, die über endlose Stufen verdichtet, neukombiniert, indexiert werden. Materialien wie Immaterialien haben die Neigung zu gewaltigen Halden anzuwachsen und schließlich als Lawinen über uns hereinzubrechen. In ihrer Müllform stellen beide sich als Problem von Volumen und Konzentration. Volumen stellt sich bei den Immaterialien naturgemäß nicht als Raumproblem, sondern, wie bei der geordneten Deponie der Materialien, als eines des Retrievals, des Zugriffs auf das Abgelegte. Da sich alles unter Umständen vom Müll wieder in Ressource verwandeln kann, bedarf es einer Meta-Information, eines Index, um es wiederfinden zu können. Die Verdichtung senkt den Platzbedarf, aber erhöht die Konzentration, und damit die Störanfälligkeit sowie die Giftigkeit, ...und sie senkt die Zugriffsgeschwindigkeit.

Für das, was in keinem heute denkbaren Fall sich wieder in Sero verwandeln lassen kann, müssen Entsorgungstechniken bedacht werden. Eine solche ist der Einsatz von Viren und anderen Mikroben. Sie schaffen Leere im Speicher des Computers und in dem der Umwelt. Sie schaffen einen sekundären leeren Raum, bereit für neue Projektionen und Einschreibungen. Sie machen die mit Gegebenem zugemüllte Arbeitsfläche zur tabula rasa, d. h. zur Ressource.

Bei der Information ist es evident. Es gibt nur Zustandsveränderung. Auch Viren vernichten nichts. Sowenig, wie man sie vernichten kann. jedes Immunsystem zwingt die Viren nur zur Mutation in eine andere Gestalt. Sie sind keine Wesen, sondern ein Prinzip. Die Speicherzellen, die Null oder Eins aufnehmen können, sind ein reiner Möglichkeitsraum, der bis zur Müllwerdung von außen, bis zum definitiven Stromausfall, als Boden der Wirklichkeit besteht. Es gilt der Möglichkeitserhaltungssatz. Man kann alles auf Null oder alles auf Eins stellen, tabula rasa machen - und dennoch ist nichts verloren. Unaufhörlich werden die 0/1 Zustände ausgelegt, bereits durchgespielte Möglichkeiten rekonstruiert und neue erschlossen. Es gibt kein Ende, es findet ständig statt: indem alles wieder in die statistische Gleichvertellung von Null und Eins zurückfließt, ins Weiße Rauschen. Dieses wird in einer anderen Lesart, dem Zufallsgenerator, bereits selbst zur Information.

Information ist das geregelte Setzen von Ladungen. Die Materie wird zu einer Maschine in-formiert. Die Regel der Setzung, der Belegung von Speicherzellen, muß immer wieder neu gefunden werden. Jede nur mögliche diskrete Maschine kann im Computer nachgeschaffen werden, so die Definition von Turing. Wir brauchen keine Wirklichkeits-Maschinen mehr zu bauen, wir brauchen nur die universelle Informationsmaschine zu beschriften, zu programmieren.

Jede mögliche schließt natürlich auch jede Menge Müllmaschinen ein. Jeder Programmierer hat seine Festplatte voll mit Programmruinen, von denen man nicht sagen kann, ob sie sich noch im Aufbau befinden oder durch jeden weiteren Eingriff vollkommen in sich zusammenstürzen würden.

Spricht man vom Material und seiner immateriellen Erscheinungsform, muß man fragen, von wo aus sprechen wir über Müll? Kann es überhaupt ein anderer Ort sein, als die Beckettschen Mülltonnen? »Nagg verschwindet im Mülleimer und klappt den Deckel zu. Nell rührt sich nicht. Worüber können sie denn reden, worüber kann man noch reden? Rasend: Mein Königreich für einen Müllkipper! Er pfeift. Weg mit diesem Dreck! Ins Meer damit!«


1. Tumult 1 (1981), S.84. Adorno brachte den Abfall zwar noch nicht mit Zufall und Unfall zusammen, meinte aber wohl etwas ähnliches, als er in der Minima Moralia schrieb: »... daß Erkenntnis dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik (der Dialektik von Siegen und Niederlagen, dem »Stufengang zum Heil «, die Hg.) nicht einging, am Wege liegenblieb - gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind« (Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 975, S. 200).

2. Das Halteproblem ist offenkundig dem der iterativen Annäherung an einen Gleichgewichtszustand von Müllproduktion und -Entsorgung verwandt.

3. In: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1988.