Christian Unverzagt

An die Nachwelt und über sie hinaus

Schlusswort für das Projekt "Nukleare Flaschenpost in die Zukunft", 2012

Müll und Nachwelt

Fast alle Kulturen erinnern sich an alte Erzählungen von Riesen und Ungeheuern. In keiner Kultur durften sie bleiben, doch freiwillig verschwanden sie nicht. Götter konnten den Menschen helfen, doch sie konnten ihnen ihre Kämpfe nicht abnehmen. Sie selbst mussten lernen, im Ringen auf Leben und Tod ihre Art zu erhalten. Erst die Überwindung der Monster führte zum Maß des Menschen.

Die Kämpfe mit Monstern ragten noch in die Zeit der Geschichte. Während die Antike die Kämpfe ihrer Helden gegen Sphingen und Kyklopen in den Mythos bannte, nahmen in der christlichen Ära Märtyrer und Mönche mit verifizierten Lebensdaten die Herausforderung durch Drachen und dämonische Bestien an. Selbst oder gerade im Zeichen Gottes schienen die Menschen noch nicht endgültig von der Gefahr befreit, die ihrer Art drohte.

Dem aufgeklärten 20. Jahrhundert war die Physis der Monster äußerlich unscheinbar geworden. Aber sie waren nicht verschwunden, sie hatten sich in den Seelen der Bösen eingenistet. Sie waren zum politischen Feind einer Menschheit geworden, die im Kampf gegen sie ihr Maß erhielt. Wieder waren fürchterliche Kämpfe nötig, wieder winkte den siegreichen Helden Ruhm. Dazu kam der Börsengang ihrer Waffenschmiede.

Als der Krieg vorüber war, lernten die Menschen ihre Kräfte friedlich nutzen. Man sagt, man dachte, dass die militärische Nutzung der atomaren Strahlung schlecht, ihre friedliche Nutzung aber gut sei. Man ging das Risiko des Unfalls ein – und die Gewissheit des Abfalls. Unsere Epoche würde etwas hinterlassen, was sie auf unvorstellbar lange Zeit überdauern würde. Wie würden Zukünftige oder gar die Letzten unserer Art damit umgehen?

Auf einmal sprangen uns Aliens aus der Zukunft an. Sie eroberten die Kinos, unser Vorstellungsvermögen und den Spielemarkt. Doch hinter ihrer Sichtbarkeit verbirgt sich ein unsichtbares Ungeheuer, gegen das sich nicht wird kämpfen lassen. Die einzige Waffe, die wir uns für die Zukünftigen unserer Art denken können, wäre ein Wort der Warnung; denn irgendwann werden sie in Atommüllfässern keine Gefahr mehr erkennen können. Aber unsere Hinterlassenschaft und unsere Botschaft driften unweigerlich auseinander, nach spätestens ein paar tausend Jahren sind die Botschaften verstummt. Dadurch wird die Zeitdimension unserer Hinterlassenschaft monströs und überkreuzt unsere Art.

Als eine australische Minengesellschaft 1974 in Arnhemland Uran schürfen wollte, wurden ihre Arbeiter von Eingeborenen mit Keulen und Speeren angegriffen. Sie wollten verhindern, dass die dort lebenden grünen Ameisen gestört würden und zu riesigen Ungeheuern mutierten, um dann über die Menschen herzufallen. Tatsächlich klettern die etwa einen Zentimeter großen Ameisen in Arnhemland bereits im Normalfall auf Bäume, von wo aus sie sich auf Fußgänger fallen lassen. Vielleicht erschiene bei einer Verletzung des Orts sogar die Große Grüne Ameise selbst, deren Abkömmlinge die kleinen grünen Ameisen sind. Dann könnte es zur Ausrottung aller Menschen kommen.

Die Eingeborenen hatten über einen Zeitraum von wahrscheinlich einigen tausend Jahren eine Botschaft transportiert, die sie ernst nahmen. Sie kannten Tabus, unsere Zeit kennt sie nicht mehr. Wir wissen nicht, ob in den Tabus Wissen, Nicht-Wissen oder Wissen ums eigene Nicht-Wissen gespeichert war. Aber wir wissen, dass das, was in ihnen als Proprium der Großen Unbekannten galt, unserer Zeit als zu erschließendes Neuland unseres Wissens gilt, als dessen Noch-nicht. Das Tabu ist zum Nicht-mehr und damit zum Nicht-Wissen unserer Zeit, von dem sie nichts mehr weiß, geworden.

Können wir uns überhaupt noch Nachkommen denken, die unseren Warnungen Folge leisteten? Als was denken wir uns? Als eine weitergebende, hinterlassende, auf- oder erfindende, versiegelnde oder Siegel brechende Kultur?

Als was denken wir unseren Abfall? Im besten Fall als wertvollen Rohstoff für Zukünftige, im schlimmsten als dämonischen Fluch. Der Mythos vom wiederverwertbaren Atommüll ist jetzt schon unterwegs. Vielleicht tritt der schlimmste Fall ein, wenn der beste realisiert wird.

Unsere Botschaft ginge vielleicht nicht verloren, wenn unsere Nachkommen selbst die Botschafter wären; wenn sie irgendwann zu Eingeborenen geworden wären. Wenn sie selbst die Warnenden wären, müssten wir sie nicht vergeblich vor dem strahlenden Müll warnen.

Aus den einen werden Eingeborene geworden sein, aus anderen Priester, aus noch anderen Minenbesitzer und -mitarbeiter.

Millionen Jahre später, wenn die Fässer sich mit den Seinsbedingungen auf diesem Planeten ausgetauscht und rückgekoppelt haben werden, wird es keine Diskrepanz zwischen monströser Hinterlassenschaft und ohnmächtiger Botschaft mehr geben.